Margot Friedländer: Zeitzeugin des Holocaust und Mahnerin gegen das Vergessen

margot friedländer

Eine Kindheit im Berlin der 1920er Jahre

Margot Friedländer wurde am 5. November 1921 in Berlin geboren – in eine jüdische Familie, die sich gut in das kulturelle Leben der Weimarer Republik integriert hatte. Ihre Kindheit verlief zunächst weitgehend unbeschwert. Die Familie lebte in bürgerlichen Verhältnissen, und Margot ging wie viele andere Kinder zur Schule, machte Musik und träumte von einer Zukunft. Doch der politische Wandel, der mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten ab 1933 einherging, veränderte das Leben der jüdischen Bevölkerung Deutschlands dramatisch. Mit jedem Jahr wurde das Leben für Juden in Deutschland bedrückender – soziale Ausgrenzung, Berufsverbote und die systematische Entrechtung durch die Nürnberger Gesetze führten dazu, dass sich Margot Friedländers Leben in kürzester Zeit radikal wandelte.

Trotz aller Repressionen versuchte Margots Familie, ein normales Leben zu führen. Ihre Eltern trennten sich, was für Margot ein erster persönlicher Einschnitt war. Ihr Vater emigrierte schließlich in die Tschechoslowakei, während sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Ralph in Berlin blieb. Die Zeit zwischen 1938 und 1943 war für die Familie eine Phase wachsender Angst. Die Deportationen begannen, Freunde und Nachbarn verschwanden – und auch die Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit schrumpfte mit jedem Tag.

Der Verrat, die Verhaftung und das Überleben

Picture background

Im April 1943 erlebte Margot Friedländer den wohl einschneidendsten Moment ihres Lebens. Ihre Mutter und ihr Bruder Ralph wurden von der Gestapo verhaftet und kurz darauf nach Auschwitz deportiert – sie überlebten das Konzentrationslager nicht. Margot war zu diesem Zeitpunkt auf sich allein gestellt. Bevor ihre Mutter abgeführt wurde, hinterließ sie ihrer Tochter eine Nachricht: „Versuche, dein Leben zu machen.“ Dieser Satz wurde für Margot Friedländer zum Lebensmotto und inneren Anker in den kommenden Jahren.

Margot tauchte unter und lebte mit Hilfe von Freunden und Bekannten in verschiedenen Verstecken in Berlin. Doch 1944 wurde sie verraten – von einem Denunzianten, der ihr auffälliges Äußeres erkannte. Die Gestapo verhaftete sie und deportierte sie in das Konzentrationslager Theresienstadt. Dort erlebte sie Hunger, Krankheit, Tod und die ständige Angst vor der Selektion. Doch sie überlebte. Als das Lager im Mai 1945 von der Roten Armee befreit wurde, war Margot Friedländer eine der wenigen Überlebenden. Ihre gesamte Familie war ermordet worden – sie selbst stand nun vor der Aufgabe, ein neues Leben aus den Trümmern der Vergangenheit zu formen.

Neuanfang in den USA und das lange Schweigen

Picture background

Nach dem Krieg emigrierte Margot Friedländer 1946 in die Vereinigten Staaten. In New York fand sie nicht nur Sicherheit, sondern auch ihren späteren Ehemann Adolf Friedländer, den sie aus Theresienstadt kannte. Die beiden heirateten und bauten sich ein Leben in Brooklyn auf. Jahrzehntelang sprach Margot Friedländer nicht öffentlich über ihre Vergangenheit. Wie viele Holocaust-Überlebende trug sie die Erinnerungen tief in sich – schmerzhaft, aber unaussprechlich. Das Bedürfnis, zu vergessen oder wenigstens zu schweigen, war größer als der Drang zur Aufarbeitung.

Erst nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1997 begann ein Wandel. Margot Friedländer suchte bewusst die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte und öffnete sich gegenüber der Öffentlichkeit. Sie nahm erstmals Kontakt zur „Jewish Claims Conference“ auf und sprach über ihre Erfahrungen. Diese Öffnung war der Beginn eines neuen Kapitels in ihrem Leben: Margot Friedländer wurde zur Zeitzeugin – zur aktiven Mahnerin gegen das Vergessen.

Rückkehr nach Deutschland und Engagement für Erinnerungskultur

Picture background

2003 reiste Margot Friedländer erstmals wieder nach Deutschland. Für viele war es überraschend, dass eine Holocaust-Überlebende den Ort ihrer Verfolgung noch einmal betreten wollte. Doch für Margot Friedländer war es ein notwendiger Schritt. 2010, im Alter von 88 Jahren, entschied sie sich sogar, dauerhaft nach Berlin zurückzukehren – nicht aus Sentimentalität, sondern mit einem Ziel: Sie wollte die junge Generation aufklären, sie wollte ihre Geschichte erzählen und verhindern, dass sich die Schrecken der Vergangenheit jemals wiederholen.

In Berlin begann sie, an Schulen, Universitäten und Gedenkstätten zu sprechen. Ihre Auftritte waren von außergewöhnlicher Wirkung: Mit ruhiger Stimme, ohne Pathos, aber mit tiefer Überzeugung sprach sie über die Gräuel des Nationalsozialismus, über Schuld, Mitläufertum und Menschlichkeit. Margot Friedländer war dabei nicht anklagend – ihr Ziel war Verständigung, nicht Vergeltung. Sie wollte, dass junge Menschen verstehen, was passiert ist, um Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.

2014 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, zahlreiche weitere Ehrungen folgten. Ihr 2010 erschienenes Buch Versuche, dein Leben zu machen wurde ein Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Es schildert nicht nur ihre persönliche Geschichte, sondern auch die kollektive Geschichte der jüdischen Verfolgung in Deutschland – auf eine Weise, die emotional berührt und intellektuell fordert.

Eine Stimme gegen Hass, Rassismus und Gleichgültigkeit

Picture background

Margot Friedländer wurde im hohen Alter zu einer der wichtigsten Stimmen gegen Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung in Deutschland. In einer Zeit, in der rechtsextreme Tendenzen und Verschwörungstheorien wieder lauter werden, blieb sie unbeirrt in ihrer Botschaft: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was war. Aber dafür, dass es nicht wieder geschieht.“ Dieser Satz wurde zu einem der bekanntesten Zitate von Margot Friedländer – eine Aufforderung zur moralischen Wachsamkeit.

In ihren Vorträgen sprach sie nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über die Gegenwart. Sie forderte Zivilcourage, kritisches Denken und Empathie. Für Margot Friedländer war die Erinnerung kein Selbstzweck – sie war eine Verpflichtung. Gerade Jugendlichen gegenüber zeigte sie sich offen, zugewandt und dialogbereit. Sie glaubte an die Kraft der jungen Generation, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Ihr Engagement wurde nicht nur in Deutschland, sondern international gewürdigt. In den USA, Israel, Frankreich und Polen wurde sie eingeladen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Ihre Stimme war klar, ihre Botschaft universell: Nie wieder dürfen Menschen wegen ihrer Herkunft, Religion oder Überzeugung verfolgt werden.

Vermächtnis einer Jahrhundertzeugin

Picture background

Margot Friedländer ist weit mehr als eine Überlebende des Holocaust. Sie ist eine Botschafterin der Menschlichkeit, eine Brückenbauerin zwischen Vergangenheit und Zukunft. In einer Welt, die zunehmend polarisiert erscheint, erinnert sie daran, dass jeder Einzelne Verantwortung trägt – für Worte, für Taten, für Mitmenschen. Ihre Lebensgeschichte ist ein Mahnmal ohne Mauer, ein lebendiges Zeugnis dafür, dass das Erinnern eine aktive Form des Handelns ist.

Selbst mit über 100 Jahren war sie noch aktiv, nahm an Veranstaltungen teil, schrieb Briefe, beantwortete Fragen. Ihre Präsenz war inspirierend, ihr Geist wach und ihr Humor trotz allem erhalten geblieben. Viele junge Menschen berichten, dass Begegnungen mit Margot Friedländer ihr Leben verändert haben. Wer ihr zuhörte, vergaß nie wieder, was sie zu sagen hatte.

Ihr Name steht heute für Versöhnung, für Widerstandskraft und für das unerschütterliche Bekenntnis zur Menschlichkeit. Schulen, Straßen und Stiftungen tragen ihren Namen, und ihre Worte sind in Lehrbüchern ebenso präsent wie in Gedenkstätten. Margot Friedländer hat bewiesen, dass ein einzelnes Leben Geschichte schreiben kann – nicht durch Macht, sondern durch Haltung.


Fazit

Margot Friedländer hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten – nicht als historisches Kapitel, sondern als Mahnung an die Gegenwart. Ihr Mut, ihre Wärme und ihre Klarheit haben sie zu einer der bedeutendsten Zeitzeuginnen des 20. und 21. Jahrhunderts gemacht. Der Satz ihrer Mutter – „Versuche, dein Leben zu machen“ – wurde für sie zum Antrieb, anderen Mut zu machen. Und genau das hat sie getan, bis ins höchste Alter. Margot Friedländer wird bleiben – als Name, als Stimme und als Gewissen einer Nation.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *