Margarida Cordeiro – Pionierin des poetischen Kinos in Portugal 

margarida cordeiro

Zwischen Kino und Psychiatrie – das ungewöhnliche Leben einer außergewöhnlichen Künstlerin

Wenn man über das portugiesische Kino spricht, denkt man oft zuerst an Namen wie Manoel de Oliveira oder Pedro Costa. Doch wer die poetische, introspektive und symbolisch tiefgründige Seite des portugiesischen Films verstehen will, kommt an Margarida Cordeiro nicht vorbei. Sie ist eine der ungewöhnlichsten Stimmen im europäischen Autorenkino – eine Frau, die mit einem Fuß in der Welt der Psychiatrie stand und mit dem anderen das Kino Portugals für immer veränderte. Als Regisseurin, Drehbuchautorin und studierte Psychiaterin entwickelte sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten António Reis eine einzigartige filmische Sprache: introspektiv, visuell suggestiv, von Anthropologie und Ethnografie durchdrungen. Ihre Filme gelten heute als Meilensteine des „cinema poético“ – des poetischen Kinos, das Emotionen, Erinnerungen und kulturelles Gedächtnis in visuelle Poesie verwandelt.

Frühe Jahre – Zwischen Wissenschaft und Kunst

Picture background

Margarida Cordeiro wurde 1938 in Portugal geboren. Ihre berufliche Laufbahn begann sie als Psychiaterin, ein Fach, das ihr nicht nur intellektuell entsprach, sondern sie auch tief in das Wesen des Menschen eindringen ließ – in seine Gedanken, seine Ängste, seine Träume. Diese Auseinandersetzung mit dem Inneren, mit Identität und Erinnerung, sollte später die zentrale Inspirationsquelle für ihre filmische Arbeit werden. Sie traf in den 1960er Jahren auf António Reis, einen Dichter, Fotografen und Filmemacher, der wie sie eine radikale Abkehr vom realistischen Kino der Nachkriegszeit suchte. Gemeinsam entwickelten sie einen künstlerischen Ansatz, der Kino als kontemplative Kunstform verstand – als eine Art visuelle Meditation über das Menschsein.

Der Beginn einer einzigartigen filmischen Zusammenarbeit

Die kreative Partnerschaft zwischen Margarida Cordeiro und António Reis war in vielerlei Hinsicht ein Novum. Zwar war Reis in der Öffentlichkeit zunächst der bekanntere Name, doch Cordeiros Beitrag war nicht minder entscheidend. Sie war Mitautorin aller Drehbücher, Co-Regisseurin, konzeptuelle Vordenkerin und sensible Beobachterin der psychologischen Tiefen, die ihre Filme so unverwechselbar machen. Ihr gemeinsames Werk ist nicht nur Ausdruck einer künstlerischen Symbiose, sondern auch ein kulturelles Manifest gegen die Entfremdung und Vereinheitlichung der Moderne.

Ihr erster bedeutender Film war „Jaime“ (1974), eine Art visuelles Tagebuch über einen geistig behinderten Jungen, der im Alltag einer psychiatrischen Einrichtung lebt. Der Film ist halb Dokumentation, halb Essay – und zeigt bereits das besondere Gespür von Margarida Cordeiro für Bildsprache, psychologische Tiefe und rhythmische Erzählung. Es ging ihr nicht um eine soziologische Analyse, sondern um ein poetisches Porträt – eine Annäherung an das Innere eines Menschen jenseits von Worten.

„Trás-os-Montes“ – ein Meisterwerk zwischen Ethnografie und Mythos

Picture background

Der vielleicht wichtigste Film in Margarida Cordeiros Karriere ist „Trás-os-Montes“ (1976). Das Werk gilt heute als einer der bedeutendsten Filme der portugiesischen Filmgeschichte. Es ist ein cineastisches Gedicht über die abgelegene, vergessene Region Trás-os-Montes im Nordosten Portugals – eine Landschaft, in der Armut, Folklore, Sprache und Mythen über Jahrhunderte fast unverändert überlebt haben. Cordeiro und Reis beobachteten die Bewohner dieser Region mit einem ethnografischen Blick, vermieden jedoch die Objektivierung oder Exotisierung, wie sie in klassischen Dokumentarfilmen häufig anzutreffen ist.

Stattdessen verschmilzt der Film ethnografische Dokumentation mit poetischer Fiktion: Kinder lesen Gedichte, Männer erzählen Sagen, Frauen singen alte Lieder, während die Kamera langsam über Felder, Steinhäuser und zerklüftete Täler gleitet. In jedem Bild steckt ein stiller Respekt vor dem Leben der Menschen, vor ihrer Sprache, ihren Gesten, ihrem kulturellen Gedächtnis. „Trás-os-Montes“ wurde nicht als gewöhnliche Geschichte erzählt – er entfaltete sich als ein visuelles Gedicht, als eine Mischung aus Märchen, Erinnerung und Traum. Der Film gewann internationale Anerkennung, obwohl er in Portugal zunächst wenig beachtet wurde – zu experimentell, zu still, zu „anders“.

„Ana“ und die Fortsetzung eines filmischen Universums

Picture background

Mit dem Film „Ana“ (1985) setzten Margarida Cordeiro und António Reis ihre Suche nach der poetischen Essenz des Menschlichen fort. In der Hauptrolle ist Ana Cordeiro zu sehen, die Tochter des Regiepaars. Die Geschichte – wenn man sie überhaupt so nennen kann – folgt Ana durch einen ländlichen Alltag, der immer wieder von Erinnerungen, Fantasien und symbolischen Bildern durchbrochen wird. Auch hier ist die Erzählweise assoziativ, nicht linear. Das Tempo ist langsam, die Kamera beobachtet, verweilt, schweigt. In „Ana“ wird der Einfluss der Psychiatrie besonders deutlich: Träume, kindliche Wahrnehmung, traumatische Erfahrungen – all das wird in Bilder übersetzt, die mehr andeuten als erzählen.

Cordeiros Stil zeigt sich auch in ihrer Fähigkeit, Landschaften und Räume als Spiegel der Psyche zu inszenieren. Häuser, Höfe, Wälder – sie alle tragen eine innere Bedeutung, die über das Sichtbare hinausgeht. Es ist ein Kino der inneren Zustände, das eher fühlt als erklärt. „Ana“ wurde auf mehreren internationalen Festivals gezeigt und genießt bis heute Kultstatus unter Liebhabern des Autorenkinos.

Das Ende einer Ära und das Fortleben ihres Werks

Picture background

Nach dem Tod von António Reis im Jahr 1991 zog sich Margarida Cordeiro zunehmend aus dem aktiven Filmschaffen zurück. Ihr Werk war nie auf kommerziellen Erfolg ausgerichtet, sondern auf künstlerische Wahrhaftigkeit und emotionale Tiefe. In der Stille ihres Rückzugs entstand jedoch ein wachsendes internationales Interesse an ihrer Arbeit. Filmhistoriker, Kuratoren und Cinephile weltweit begannen, das Werk von Cordeiro und Reis neu zu entdecken, zu restaurieren und in Filmreihen zu präsentieren.

Insbesondere im 21. Jahrhundert, in dem das Interesse an Slow Cinema, an kontemplativen Formen des Sehens und an der Verbindung von Anthropologie und Film gewachsen ist, wurde Margarida Cordeiro neu bewertet. Ihre Filme werden heute in einem Atemzug mit den Werken von Chantal Akerman, Apichatpong Weerasethakul oder Béla Tarr genannt – Regisseur*innen, die Kino als geistige Erfahrung und als Medium des Erinnerns verstehen.

Einfluss auf das portugiesische und internationale Kino

Picture background

Der Einfluss von Margarida Cordeiro auf das portugiesische Kino ist nicht direkt, sondern atmosphärisch. Ihre Filme haben eine neue Form des Sehens etabliert, in der das Unsichtbare, das Ungesagte, das Langsame zur Erzählung wird. Besonders jüngere Filmemacherinnen in Portugal – etwa Teresa Villaverde oder João Pedro Rodrigues – berufen sich indirekt auf Cordeiros Bildsprache. Auch international haben sich Künstlerinnen von ihrer Ethnopoetik inspirieren lassen, etwa in der Slow-Cinema-Bewegung, aber auch in experimentellen Dokumentarfilmen.

Ein weiterer Aspekt ihres Erbes ist die Frage nach weiblichem Erzählen im Kino. Zwar arbeitete sie meist in Co-Regie mit António Reis, doch ihr psychologischer, einfühlsamer Zugang, ihre Beobachtung der Innenwelt – insbesondere der weiblichen Perspektive – hat Maßstäbe gesetzt, die bis heute nachwirken. In einer Zeit, in der das Kino zunehmend auf Geschwindigkeit, Effekt und Handlung setzt, erscheint das Werk von Margarida Cordeiro wie ein Gegenentwurf – eine Einladung zum Innehalten, zum Spüren, zum Nachdenken.

Fazit – Margarida Cordeiro als stille Revolutionärin des poetischen Kinos

Margarida Cordeiro hat sich nie in den Vordergrund gedrängt. Ihre Filme sind keine lauten Statements, keine Thesen – sie sind stille, komplexe und zutiefst humane Kunstwerke, die sich dem schnellen Konsum entziehen. Mit ihrem psychologischen Hintergrund, ihrer künstlerischen Intuition und ihrem tiefen Respekt vor Menschen, Orten und Erinnerungen hat sie eine Filmästhetik geschaffen, die einzigartig ist. Ihr Werk ist kein Massenphänomen, sondern ein Schatz für diejenigen, die im Kino mehr suchen als Unterhaltung – die Poesie, Tiefe und die leisen Fragen des Lebens.

In einer Welt, in der Bilder oft zur Reizüberflutung verkommen, erinnern uns die Filme von Margarida Cordeiro daran, dass Sehen ein Akt der Achtsamkeit ist. Sie hat das Kino nicht revolutioniert – sie hat es verlangsamt. Und vielleicht ist

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *